Donnerstag, 12. November 2015

Die Leiche



So, nachdem nun der Bann gebrochen ist, gibt es gleich noch eine story über eine weibliche bronxx-Figur.
Bei mir ist sie „die Leiche“ und zwar spreche ich das in etwa so aus, wie es ein Hesse tun würde: Betonung mehr auf dem „e“ als auf dem „i“ und das „ch“ wird zu ’nem ordentlich lang gezogenem weichen „sch“.
Warum? Weil, das klingt nicht annähernd so makaber wie der originale Begriff. Dann ist das Thema nicht ganz so schlimm, falls ihr wisst wie ich meine. Bei dem Titel muss man ja per se schon Angst bekommen…

Als ich sie hier bei uns im Viertel das erste Mal sah, war ich ganz schön geschockt. Auf dem Bürgersteig näherte sich mir eine ziemlich dünne Gestalt, so ca. 1,73 m groß. Ihre Haare waren weiß-grau, schulterlang, sehr dünn und standen recht wirr in alle Richtungen ab. Ihr sehr drahtiger Körper war in eine Leggings und einen Anorak gehüllt. Sie war vom Alter her ganz schlecht einzuschätzen, irgendwas zwischen 60 und 70. Sie schob eine Kinderkarre vor sich her. Und das Bemerkenswerteste an ihr war ihr starrer durchdringender Blick
Mir blieb in dem Moment der Mund offen stehen und es mir lief ein kalter Schauer über den Rücken. Von ihr ging keinerlei Regung aus. Sie bugsierte – starr geradeaus blickend – die Karre vor sich her.

Bei einer unserer nächsten Begegnungen – stellt Euch ein ähnliches Bild vor und tauscht einfach bloß die Farben ihrer Kleidung aus – begrüßte ich sie einfach mal. Sie wohnte offensichtlich auch in unserer Straße und da kann man ja mal „guten Tag“ sagen, dachte ich mir. Ich wollte eine Reaktion von ihr, irgendeine, egal welche. Aber sie wandte nur kurz den Kopf zu mir, nickte fast unmerklich, starrte dann wieder geradeaus und zog schiebend weiter.
Die Kinderkarre fest im Griff.

So ging es über Monate und Jahre hinweg. Bei Wind und Wetter war sie unterwegs. Langsam, fest fixiert auf einen Punkt im Nirwana, einen etwas sehr merkwürdigen Geruch hinterlassend und immer mit ihrem Gefährt im Schlepptau.
Was sie da drin hatte, keine Ahnung, ich habe es vergessen. Es war jedenfalls nie – wirklich echt NIE – ein Kind darin. In ihrem Alter hätte ich eher auf Enkelkind getippt, aber nein, es gab nie eines in der Karre. Diese Karre, die vermutlich auch schon halb so viel Jahre auf dem Buckel hatte wie ihre Besitzerin. Schrottreif, runtergekommen…

Auf mich wirkte „die Leiche“ immer wie eine solche. Irgendwie ferngesteuert aus und in eine andere Welt gehend unterwegs. Einzig gehalten vom treuen Gefährt, das ihr scheinbar das letzte bisschen Bodenhaftung gab.

In diesem Jahr habe ich sie noch kein einziges Mal gesehen. Gut, ich war viel unterwegs und selten hier, aber ich vermute mal, dass es sie einfach nicht mehr gibt. Sollte sie es tatsächlich geschafft haben, ihre letzte Ausfahrt angetreten zu haben?
Dann: R.I.P. meine liebe wundersame Gestalt aus der Zwischenwelt. Komm gut an dort, vergiss Deinen Kinderwagen nicht und bestell liebe Grüße von uns hier. Du fehlst irgendwie doch. Hier in unserer bronxx. Hier, wo alle ihren festen Platz haben und ihre besondere Rolle einnehmen.
Mögest Du in diesem blog ewig weiterschieben…
 

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